Der Diskurs über den Menschen verändert den Menschen, verändert die Sicht des Menschen auf sich selbst – mit der Konsequenz, dass wir uns heute als Produktionsmittel betrachten. Nur das verleiht unserer Existenz einen Sinn. Und auch das liegt am Diskurs. Wir sind entmenschlicht, versachlicht – auf die Arbeit reduziert: Homo Oeconomicus.
Wir alle haben den Satz des hiesigen Kennenlernens: „Was machst Du so beruflich?“ schon mal gehört. Die Frage soll oberflächlich den gesellschaftlichen Status abklären, gleichsam will man aber auch den Charakter erfassen. Schließlich geht es nicht um ein Geschäft, aber der Beruf war von altersher eine Frage zur Schubladisierung. Es ist offensichtlich, dass man sich der gängigen Stereotype bemüht, um eine Person einzuordnen. Ein Arbeiter ist Unterschicht, ein Bankier gehört zur Oberschicht. Gibt das wirklich Auskunft über die Bildung oder den Charakter? Vielleicht eher, aber nicht vollumfänglich erlangt man Informationen über die Stellung in der Gesellschaft. Das rangiert auf der Ebene der Mitgiftfrage.
Wir leben in einer Welt, in der der Beruf zum Job wurde. Sicherlich war der Beruf auch nicht immer eine Berufung, schließlich übernahm man (als Sohn) nicht selten die väterliche Stellung. Das Mittelalter bot sowieso wenig Auswahl an Entfaltungsmöglichkeiten. Das Leben war vorgezeichnet. In der Moderne gelang es vor allem dem Geldadel sich durch den Beruf selbst zu verwirklichen. Doch Selbstverwirklichung im Job – geht das überhaupt?
Das im Grundgesetz verbriefte Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit
Man kann sich ja schon glücklich schätzen, dass man angesichts des alltäglichen Pflichterfüllungsgangs nicht weinend aus dem Bett steigt. Es quälen sich Millionen Menschen, nur um einen meist sinnlosen und gesellschaftlich irrelevanten Job zu erfüllen, den man weder mag noch will, aus den Federn durch den Verkehr. Es wird erwartet und selbst die SPD will das rechtlich festzurren, dass man drei Stunden Arbeitsweg in Kauf nehmen muss. Durch die Mietenexplosion in den Innenstädten, wo die Jobs sind, ist das durchaus im Bereich des Möglichen.
Je nach Entfernung entschwinden täglich bis zu 11 Stunden der Freizeit. Es irritiert auch niemanden, dass die Fahrtzeit nicht zur Arbeitszeit gehört, obwohl die Anfahrtskosten steuerlich vergolten wird und zur Pflichterfüllung gehört. Dazu kommen Aufwendungen wie Steuererklärungen oder Betriebsfeiern. Wenn ich also acht Stunden schlafen will, dann bleiben noch fünf Stunden des müden Tages für die Selbstbestimmung, abzüglich Einkaufen, Essen und je nach Bedarf gesellschaftliche Küren wie Kirchenbesuch oder dergleichen. Sicherlich hat man zwei Tage für die Selbstverwirklichung, dann muss es auf Kommando kommen. Die Erholung ist damit abgegolten.
Wenn man die Zeit für die Selbstverwirklichung wegnimmt, das Recht aber verbrieft vorliegt, klingt das wie der Satz der Marie Antoinette: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie Kuchen essen!“ Es sei Dir vergönnt, wenn man nur die Zeit dafür finden würde. Die Reue darüber kommt dann auf dem Altenteil, das es nicht mehr zulässt, oder im Sterbebett.
Sicher gibt es jene, die keine Selbstverwirklichung brauchen. Sie genießen die hohen Summen auf den Konten und ertragen dafür so manche Schelle des Joblebens. Denn unser Lebensmotto lautet: Glücklich sind jene, die sich die Produkte kaufen können. Sie werden vor ihre Schöpferin treten und flehen, ich will weiterleben, mein Job ist noch nicht erledigt. Sie sind die guten Arbeiter*innen. Sie leben ihr Leben im Sinne der Wirtschaft. Von ihnen berichten die Medien, sie gehörten zu den Anständigen!
Das Leben ist schließlich kein Ponyhof. Das Leben ist kein Wunschkonzert. Warum eigentlich nicht? Für die oberen Zehntausend trifft das zu. Sie gehen selten einer geregelten Arbeit nach, ihnen wird nicht das Saugen an der Wohlfahrtszitze zur Last gelegt, obwohl es genaugenommen noch schlimmer ist. Sie saugen freilich nicht, sie teilen nur nichts oder weit zu wenig von ihrer reichlich vorhandenen Milch. Sie haben das schließlich nicht im leeren Raum erwirtschaftet.
Ich arbeite, also bin ich
Wir, la grande masse, wir leben also für die Arbeit, für die Leistung. Deshalb, und da nehmen wir gar kein Blatt vor den Mund, leben wir in einer Leistungsgesellschaft. Das sagen sogar konservative Blätter wie die FAZ.
Wir haben unsere Produktivität mit Elektrifizierung, mit Industrialisierung und zuletzt mit Digitalisierung so stark erhöht, dass wir – die Würze liegt in der Ironie – mehr arbeiten müssen. Dazu gesellt sich der Wettbewerb, der zwischenzeitlich alle Lebenssphären erfasst hat. Aber machen wir uns locker, da ist noch mehr drin! Arbeiten bis 67, arbeiten danach und länger und mehr und sowieso sind die Arbeitenden viel zu faul! Und wenn Du nicht willst, gibt es viele andere, die bereitstehen, den Job zu machen. Konkurrenz belebt das Geschäft, nicht wahr!
Wir erreichen nur so gesellschaftliche Anerkennung, derart generieren wir unsere Integration. Wir opfern unser einziges Leben der Arbeit und der Leistung, als hätten wir noch weitere. Nun gut, einigen Gläubigen mag das so erscheinen, aber wer weiß, ob der Himmel nicht auch noch Arbeit vorhält?
Jetzt könnte man Langeweile ins Spiel bringen, wenn man den ganzen Tag nicht zur Arbeit geht. Aber weit gefehlt, es geht nicht darum, in Langeweile zu versinken. Die Versachlichung, die Entmenschlichung, die Objektivierung der Menschen im Wirtschaftskontext steht hier am Pranger.
Es geht darum, dass wir uns selbst verwirklichen. Die Besserwerdung, die zwar von der Schule bis zur Kirche mitschwingt, meint meistens das fachwerkliche Engagement und das würde sich qua Ex-Machina- auf den Charakter auswirken.
Diese Vorstellung, dass wir nur durch Arbeit an der Gesellschaft teilhaben, ist in einer Zeit, da man nicht mehr Teil des Bauernhofs ist, geradezu anachronistisch. Wer will schon gerne bei seiner Arbeit leben? Wer will seine Freizeit mit seinem Chef verbringen? Das ist auch einer meiner Kritikpunkte bei Karl Marx.
Worte und Arbeitsleben
Dass die Sprache das Denken bildet, trifft auch auf das Arbeitsleben zu. Arbeit ist eine Ableitung vom griechischen Mühsal. So erscheint es uns auch, so wird es schon in der Bibel vermittelt. Jetzt, da wir aus dem Paradies entlassen wurden, müssen wir uns mühselig ernähren. Arbeit hat auch Anleihen bei der Armut, denn Arbeit meint in unserer Zeit das Verkaufen von Zeit, das die Reichen weniger tangiert. Und Zeit ist, gerade in einer schnellerlebigen Welt, der ultimative Faktor.
Die Arbeit, die Produktivität leitet das Denken bis in die Sphäre der Freizeit hinein. Das Wort Urlaub stammt von der erlaubten Abwesenheit. Die Arbeitenden, die Job-Leistenden müssen ihre Zeit ‚auf Arbeit‘ verbringen. Das ist der Normalzustand. Die Abwesenheit muss erlaubt werden. Wie hörig fühlt man sich, wenn man sich das zu Gemüte führt?
Der Mensch als Produktionsmittel
Selbstverwirklichung steht im Grundgesetz und ist, wie die Gleichberechtigung der Frauen, nur im Ansatz verlässlich. Wie soll ich mich selbst verwirklichen, wenn Arbeit alles impliziert. Die Diskussion, die auch die SPD hierzulande führt, verdeutlicht: Wer nicht arbeitet, hat keine Rechte. Nicht einmal das Recht auf eine Grundversorgung.
Es ist wie im 19. Jahrhundert, nur wer Steuern zahlt, darf auch mitreden. Eine Idee, die Konservative immer wieder gerne einführen wollten. Wer Geld hat, hat die Macht. Das gilt heute wieder mehr, als noch vor 40 Jahren. Nur die Verdunklungsgeschichte wurde optimiert.
Denn das geschieht alles zum Wohl der Wirtschaft, die die aktuelle Religion darstellt. Das Wir besteht aus dem gemeinsamen BIP, in welchem sich die Länder messen. Das BIP, die Produktion eines Landes, ist das Glaubensbekenntnis, der Gott ist Geld und die Arbeit ist das gottesgefällige Leben, das das gottähnliche System für die Unterschicht bereithält.
Aus dem selbstverwirklichenden Menschlein wird ein Objekt. Ein Roboter. Was kosten uns wieder diese Krankheitstage? Was kostete Corona? Rentiert sich eine neue Hüfte für eine Person im Rentenalter, die ja gar nichts mehr leistet? Was tun die Insekten für uns, damit wir sie schützen müssen? Der ewigliche Vergleich bemüht immer zu den Nutzen für uns. Gleichgültig wie es den Menschen geht. Das wird besonders in der Asylpolitik deutlich. Was uns das alles kostet? Die vielen Asylsuchenden, denen nicht selten etwas Bösartiges unterstellt wird. Mal stehlen sie die Jobs, mal sind sie zu faul zum Arbeiten. Wie es den Leuten geht, ist dabei absolut irrelevant. Es zählt einzig und allein ihr Beitrag zum BIP.
Der Sinn des Lebens in unserer Gesellschaft bemisst sich nur über das Bankkonto. Je mehr Geld, desto mehr hat man es erreicht. Der Aufstieg im Job ist ja schließlich auch allein mit einem erhöhten Gehalt verbunden.
Sklavenmoral à la Malcom X
Und wenn man eine Auszeit nimmt, dann macht sich das nicht so gut im Lebenslauf. Der muss lückenlos sein. Preise Dich als gute oder guten Arbeitnehmer*in an. Mache Ausbildungen, Fortbildungen, Weiterbildungen – sofern sie jobrelevant sind. Interessant ist nur, was Dich in der Arbeit weiterbringt. Was bringt Dir denn bitte ein Philosophie-Studium? Antworten auf das Leben? Die derzeit gültige Antwort darauf ist die Höhe des Bankkontos. Was Du Dir leisten kannst, bringt Dich weiter. Nur dann bist Du ein guter Mensch. Dann werden Straßen nach Dir benannt, dann gehst Du ein in die Geschichte. Hast Du tatsächlich etwas geleistet als Chef eines Unternehmens? Oder wer hat das operative Geschäft denn geleitet? Diese Geschichte, die Geschichte der Ärmeren lautet: Leerzeichen. Das galt für die Steinzeit, die Antike, das Mittelalter bis in die Gegenwart.
Warum aber lassen wir uns so einfach in diese Geschichte pressen? Es ist natürlich der Diskurs, der uns leitet. Wir hören es jeden Tag, wir werden damit aufgezogen, dass das so ist. Wir kennen gar nichts anderes. Und wer es wagt, von der vorherrschenden Meinung dazu abzuweichen, ist radikal, extrem und dann eine Gefahr. Vor 200 Jahren waren die Radikalen die Demokraten. Heute sind jene, die Lebensgrundlage retten, radikal. Jene, die Solidarität mit den Menschen fordern, sie werden von rechts unter allen Umständen diskreditiert und schließlich entmenschlicht. Das fördert die Unterdrückung und führt, das hat die Geschichte mehrfach bewiesen, zum groß angelegten Mord.
Diese Entmenschlichung der Arbeitskraft hat aber aus praktischen Gründen einen anderen Verlauf genommen als die Entmenschlichung anderer Gruppen wie der Asylsuchenden. Malcolm X, der US-Bürgerrechtler, fand eine treffende Unterscheidung.
Es gibt Feld- und Haussklaven. Die Haussklaven verteidigen als Bessergestellte das System vehementer als die eigentlichen Nutznießenden, ihre Meister. Die meisten Menschen hierzulande verteidigen den Kapitalismus mit tiefer Inbrunst, obwohl sie als Arbeitstiere gehalten werden. Die Freiheit des Sklaven ist die Selbstverwirklichung der Arbeitenden. Nur die Haussklaven verzichten auf Ihr Geld, um den Betrieb zu retten. Sie wollen bei der Firma bleiben, sie geben ihr Herzblut – nicht für ihren Traum, sondern den ihres Chefs.
Das ganze Konzept der sich wandelnden Zeit ist hier beschrieben: POSTMODERNE ZEITENWENDE