„Sollen wir ethisch handeln, bedeutet das sowohl für Adorno wie für Foucault, dass wir eingestehen, dass der Irrtum konstitutiv für die Frage ist, wer wir sind.“

Judith Butler

Einige Perspektiven bezüglich des Individuums sind in den vorangegangenen Kapiteln bereits erfasst worden. Im Folgenden möchte ich weitere Belege für die Gemeinsamkeiten von Adorno und Foucault erarbeiten. Wiederum ist es Nietzsche, auf den sich beide in ihrer Analyse stützen.

Die Askese und die damit zusammenhängende Interpretationslosigkeit machen tatsächliche Individualisierung unmöglich. Das Leben jedes Einzelnen ist eine Interpretation. Sie ist die Erkenntnis als Selbsttranszendierung, wie Nietzsche behauptet. Die Ablehnung von Interpretation ist bei Nietzsche die Ablehnung von Leben – sogar das der Subjekte. Die Verbindung zur Naturbeherrschung ist damit augenscheinlich: Sie ermöglicht die Produktivität der disziplinierten Individuen, die sich dafür selbst unterdrücken. Die Menschen sind standardisiert. Die Geschichte des Individuums hat sich wiederholt und zwar permanent. Für Nietzsche ist dies die Wiederholung des Immergleichen. Dieser „Einfluss Nietzsches auf die kritische Theorie … und auch auf Michel Foucault [hat eine] kaum zu unterschätzende Wirkung ausgeübt …“295.

Individualität und Selbstfindung

Foucault fordert mehr individuelle Freiheit für das Individuum, ähnlich dem Menschenbild, wie es in der Antike verhaftet war. Dies bringt ihn in die Nähe der Position von Adorno, welcher im Kontrast zu der Position des „… von Hegel stammende[n] Allgemeinplatz[es],“ steht und „wonach die Freiheit des Einzelnen keinerlei Bedeutung vor der schönen Ganzheit der Polis gehabt habe“296.

Nicht die Selbstverwirklichung, sondern die Selbsterfindung ist die freiere Variante. Bei seinen Analysen des Selbst erschließt Foucault einen Bruch in der Geschichte, den auch Adorno deklariert. Nach der Antike wandelte sich das Bild der „Selbstsorge“. Die christliche Askese hat Einzug gehalten.297 Daher schreibt Adorno Odysseus auch hier Pionierfunktionenzu. Die Vorherrschaft des Allgemeinen vor dem Besonderen ist ebenso bei Foucaults Analyse der „Selbstsorge“, der „Epimeleia“, abzulehnen.

Individualität und Macht bei Nietzsche, Adorno und Foucault

In dem von Nietzsche, Adorno und Foucault gleichermaßen untersuchten Werk “Juliette” des Marquis de Sade, finden beide ihre Position “der Sorge um sich selbst” exemplifiziert. „Die Hand der Philosophie hatte es an die Wand geschrieben, von Kants Kritik bis zu Nietzsches Genealogie der Moral; […].“298 Die Trennung der Sorge um sich und der Sorge um andere wird offensichtlich beim Bruch von der Antike zum Neoplatonismus, Foucaults Äquivalent zu Adornos Trennung von Subjekt und Objekt. „Aber Verdinglichung selbst ist die Reflexionsform der falschen Objektivität; ….“299

„Indem aber Aufklärung gegen jede Hypostasierung der Utopie recht behält und die Herrschaft als Entzweiung [von Natur und Mensch] ungerührt verkündet, wird der Bruch von Subjekt und Objekt, den sie zu überdecken verwehrt, zum Index der Unwahrheit seiner selbst und der Wahrheit.“300

Foucault und Adorno sprechen dem „normalen bzw. genormten Individuum“ die Individualität ab, weil dies auch die Normalisierung verhindern würde. Die Individualisierung, für Foucault ist diese Identität eine oktroyierte, ist durch Normierung produziert bzw. konstruiert. Nur wer sich mit der Macht identifiziert, wird akzeptiert. Sei es durch Initiationsriten oder Vermeidung von Auffälligkeit, also Abweichung von der Norm. Und so schreibt Adorno: „Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz … [ob] Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken“301; oder „Verrückte“ oder schlicht „Nonkonformisten“, so könnte man die Liste im Foucault’schen Sinne fortführen.

„Die Fähigkeiten, das Niveau, die Natur der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert. Hand in Hand mit dieser wertenden Messung geht der Zwang zur Einhaltung einer Konformität.“302 Die „Integration“ bewirkt eine Pseudoindividualität, die im eigentlichen Sinn keine Individualität beinhaltet.

„Anpassung aber ist unmittelbar das Schema fortschreitender Herrschaft. Nur durch ein der Natur sich Gleichmachen, durch Selbsteinschränkung des Daseienden gegenüber wurde das Subjekt dazu befähigt, das Daseiende zu kontrollieren. Diese Kontrolle setzt gesellschaftlich sich fort als eine über den menschlichen Trieb, schließlich über den Lebensprozess der Gesellschaft insgesamt.“303
Zusammen mit den Disziplinartechniken werden die Menschen perfekt – totalitär – angepasst.

„Heute ist Individualität nur Erfüllungsgehilfe einer über ihnen waltende Macht.“304 Dabei wirkt nicht nur die Macht, sondern auch die Kulturindustrie auf den Menschen ein. Es ist die Übermacht des Allgemeinen über das Besondere. Es ist die Schwierigkeit in einer Zwangsgesellschaft eine eigene Persönlichkeit auszubilden. „Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“305

Die Bio-Macht bei Foucault wirkt als nicht ersichtliche Disziplinarmacht, die alle gesellschaftlichen Beziehungen – den Gesellschaftskörper und den Körper des Individuums – sorgfältig durchdringen, diskursiv konstituieren und zugleich kontrollieren. Die kontrollierende, disziplinierende Macht wirkt normalisierend auf die Individuen ein. „Das Individuum ist eine Erfindung der Macht.“306 Ein Großteil der Aspekte aus Foucaults Analyse lassen sich bezüglich der Frage des Subjekts und der Individualisierung ebenfalls bei Adorno finden.

„Die Rückkehr zu sich selbst widerspricht dem christlich-asketischen Selbstverzicht, in der immer wieder die Wiederherstellung einer Ethik und Ästhetik des Selbst versucht wird. […] [Es] müsste … [Nietzsche] gelesen werden.“307

Literaturnachweis | Individualisierung bei Adorno und Foucault

295 Schroer (2001): „Das Individuum der Gesellschaft“, S. 57ff.
296 Foucault (1985): „Freiheit und Selbst“, S. 12f.
297 Ebd. S., 31.

298 Horkheimer/Adorno (2003): „Dialektik der Aufklärung“, S. 93.
299 Adorno (2003): „Negative Dialektik“, S. 191.
300 Horkheimer/Adorno (2003): „Dialektik der Aufklärung“, S. 46.
301 Foucault. (1985): „Freiheit und Selbstsorge“, S. 180.
302 Foucault (1994): „Überwachen und Strafen“, S.236.
303 Adorno (1995): „Theorie der Halbbildung“, S. 96.

Von admin

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